Düsseldorf/Hamminkeln,
3. September 2021 - Für die Betroffenen dürfte dies
ein Meilenstein in der ambulanten Versorgung sein:
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste
Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im
deutschen Gesundheitswesen, hat gestern eine neue
Richtlinie zur koordinierten und strukturierten
Versorgung von schwer psychisch erkrankten
Erwachsenen beschlossen.
Diese Patient*innen haben einen komplexen ärztlichen
und therapeutischen Behandlungsbedarf und können
wichtige Lebensbereiche wie Familie oder Beruf nicht
mehr allein bewältigen.
Sie werden aber „von den bestehenden
Versorgungsangeboten oft nur schwer und
unvollständig erreicht“, heißt es in der Begründung
des G-BA. Dabei mangele es nicht an der Zahl und
Vielfalt der Leistungen, sondern daran, sie zu
verzahnen und in Einklang zu bringen.
Genau hier setzt die neue Richtlinie an: Sie schafft
die Voraussetzungen dafür, alle für die Versorgung
im Einzelfall benötigten Gesundheitsberufe zu
vernetzen, um Betroffenen schnell und bedarfsgerecht
zu helfen. Eine wesentliche Rolle nehmen dabei feste
Bezugs- und Koordinationspersonen ein, die die
Patient*innen auf den Wegen zwischen den
Versorgungsangeboten – auch zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung – navigieren. Ein Bezugsarzt
oder -psychotherapeut ist verantwortlich für den
individuellen Gesamtbehandlungsplan und die
Überwachung der Therapieziele. Die Koordination des
patientenindividuellen Versorgungsangebots – etwa
das Terminmanagement – übernimmt eine nichtärztliche
Person, zum Beispiel aus der Sozio- oder
Ergotherapie oder der psychiatrischen Krankenpflege.
Anforderungen an Netzverbünde
Die Richtlinie ermöglicht nun, dass sich
niedergelassene Fachärzt*innen,
Psychotherapeut*innen, stationäre Einrichtungen
sowie Therapeut*innen aus verschiedenen Bereichen zu
regionalen Netzverbünden zusammenschließen können.
Vorgabe ist, dass ein Netzverbund aus mindestens
zehn Akteuren aus verschiedenen Gesundheitsberufen
besteht. Der Erstkontakt zu den Patient*innen kann
direkt über spezialisierte Fachärzt*innen oder
Psychotherapeut*innen des Netzverbundes erfolgen. An
den Netzverbund überweisen oder empfehlen können
alle an der vertragsärztlichen Versorgung
teilnehmenden Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen
sowie Sozialpsychiatrische Dienste und ermächtigte
Einrichtungen.
Die Netzverbünde sollen Eingangssprechstunden
anbieten; Termine dafür sollen innerhalb von sieben
Werktagen angeboten werden. Liegen die
Voraussetzungen für eine Komplexbehandlung vor, soll
– in der Regel ebenfalls innerhalb von sieben
Werktagen – eine Differentialdiagnostik durchgeführt
werden und die Behandlung kann beginnen. Zur
Erklärung: Aufgabe der Differentialdiagnostik ist
es, Erkrankungen mit einem ähnlichen
Erscheinungsbild sicher voneinander abzugrenzen
(Ausschluss-Diagnose), um eine korrekte Diagnose
stellen zu können.
NPPV-Projekt lieferte Vorlage
„Ich begrüße es außerordentlich, dass die
koordinierte und strukturierte Versorgung von schwer
psychisch erkrankten Menschen nun endlich in der
Regelversorgung ankommt. Es war ein weiter Weg durch
die Gremien und über das Reformgesetz zur
Psychotherapeutenausbildung bis zur Richtlinie. Wir
mussten über viele Jahre dafür kämpfen und so
manches dicke Brett bohren“, ordnet Dr. med. Frank
Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen
Vereinigung (KV) Nordrhein, den G-BA-Beschluss ein.
„Es macht mich aber auch ein bisschen stolz, dass
der Impuls für dieses notwendige neue
Versorgungsangebot aus Nordrhein kommt.“ Dort setzt
die KV Nordrhein seit 2017 das vom Innovationsfonds
geförderte Projekt „Neurologisch-psychiatrische und
psychotherapeutische Versorgung“ (NPPV) zusammen mit
Partnern wie u. a. der AOK Rheinland/Hamburg und dem
BKK Landesverband Nordwest um.
284 Psychotherapeuten und 396 Fachärzte aus 423
Praxen haben sich im Rahmen von NPPV in regionalen
Netzen organisiert. Viele weitere Hausärzt*innen,
Kliniken und Selbsthilfeorganisationen sind
ebenfalls in die Vernetzung eingebunden. Gemeinsam
kümmern sie sich um rund 14.000 schwer psychisch
erkrankte Patient*innen in Nordrhein. Im September
werden die letzten Patienten in die vernetzten
Strukturen eingesteuert, dann beginnt die
Evaluationsphase
Nicht alle Wünsche umgesetzt
„Unser NPPV-Projekt hat auf dem Weg zur Richtlinie
sicher einiges an Erkenntnis beitragen können.
Stellenweise liest sie sich wie eine Blaupause
unseres Versorgungsmodells. Allerdings ist nicht
alles so gekommen, wie wir uns das vorgestellt
haben“, räumt Bergmann ein. Die Hauptziele –
schneller Zugang zu qualifizierter Versorgung,
wohnortnahe Begleitung der Patient*innen durch
Bezugspersonen und die Vernetzung verschiedener
Gesundheitsberufe und Einrichtungen – seien zwar
erreicht worden, kommentiert auch die
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Dass alle
Patienten nach der Eingangssprechstunde bei einem
Verbundarzt oder -psychotherapeuten nun zur
differentialdiagnostischen Abklärung und Erstellung
oder Änderung eines Behandlungsplans bei
Psychiater*innen des Verbundes vorgestellt werden
müssen, schaffe unnötige Engpässe. Diese Rolle
hätten sowohl fachlich wie berufsrechtlich auch
Psychotherapeuten übernehmen können. „Die
Fokussierung auf Psychiater wirkt wie ein
Flaschenhals und konterkariert am Ende das wichtige
Ziel, die Patienten so schnell wie möglich an die
für sie am besten geeigneten Versorgungsangebote zu
geleiten“, ergänzt Bergmann. Bedauerlich sei auch,
dass Erkrankungen an Demenz und weitere wesentliche
Erkrankungsbilder aus dem neurologischen Formenkreis
durch die Richtlinie nicht abgedeckt werden.
Die jetzt verabschiedete
G-BA-Richtlinie bietet die Grundlage, durch das
Projekt NPPV aufgebaute Versorgungsstrukturen und
-angebote in Nordrhein als von der GKV bezahlte
Versicherungsleistung fortführen zu können. Zunächst
muss die Richtlinie aber vom
Bundesgesundheitsministerium geprüft und danach im
Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Anschließend
legt der Bewertungsausschuss der Ärzt*innen und
Krankenkassen die benötigten Vergütungsziffern fest.
Nach Inkrafttreten der Richtlinie können sich
Netzverbünde gründen und die neue Versorgungsform
anbieten. Die KBV rechnet damit, dass dies
frühestens Mitte 2022 möglich sein wird.
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